9 Leben

Die beiden Mantas, Hex und Circe, zeigte ihnen die Stelle und verschwanden dann wieder, um ihren eigenen Beschäftigungen nachzugehen. Sie schienen die Stadt zu mögen und hatten offensichtlich Vergnügen daran, sie zu erforschen.

Cal und Aquilon standen jeweils auf einer Seite des Projektors und rührten ihn nicht an.

»Sie kannte also die ganze Zeit über einen Rückweg

- und sie hat Veg mitgenommen«, sagte Aquilon bitter. »Während wir in seliger Ignoranz schliefen.« Sie knüllte die Notiz zusammen und warf sie angewidert weg.

»Ich wußte, daß sie so ein Gerät hatte«, erwiderte

Cal. »Ich habe den Mantas gesagt, daß sie sie gehen lassen sollen.«

Sie war bestürzt. »Warum?«

»Wir konnten die Agentin nicht daran hindern, das zu tun, was sie tun wollte. Aber Veg wird ein Auge auf sie halten und ihre omnivorischen Tendenzen vielleicht etwas mildern. In der Zwischenzeit hat es keinen Zweck, hier untätig herumzustehen. Ich habe den Verdacht, daß wir allein besser mit den Mustereinheiten in Verbindung treten können. Vielleicht unternehmen sie noch einmal den Versuch, uns auf der Bühne zu kontaktieren. Wenn sie es tun, ist es mir schon lieber, wenn Veg nicht störend eingreift und Tamme nicht in den Besitz ihrer Informationen kommt. Wenn sie es nicht tun, ist es an uns, einen Zug zu machen.«

»Du hast es also rausgekriegt«, sagte sie kopfschüttelnd. Dann: »Mustereinheiten? Was.?«

»Ich habe ein bißchen nachgedacht. Ich glaube, ich verstehe die Natur unseres Entführers und wie wir uns mit ihm verständigen können.«

Sie hob die Hände, die Flächen nach oben. »Einfach so!«

»Oh, nachdem ich einmal den Schlüssel hatte, war es einfach genug«, sagte er bescheiden. »Muster.«

»Das hast du schon mal gesagt. Ich kann dir trotzdem noch immer nicht folgen.«

»Zuerst müssen wir eine geeignete Maschine fangen.«

»Eine Maschine fangen!« rief sie.

»Wenn wir sie lange genug immobilisieren können, um mir Gelegenheit zu geben, an das Kontrollsystem heranzukommen, sollte ich in der Lage sein, sie unseren Zwecken nutzbar zu machen.«

Sie blickte ihn verblüfft an. »Wir locken sie in einen Hinterhalt und geben ihr eins mit dem Vorschlaghammer auf den Kopf?«

Cal lächelte. »Nein, das würde den empfindlichen Mechanismus zerstören, den wir brauchen. Wir werden schon etwas subtiler vorgehen müssen.«

»Diese Maschinen haben für Subtilität nicht viel übrig«, warnte sie ihn. »Wenn welche von der Schraubenblatt-Sorte in der Gegend sind.«

»Die Wartungsmaschinen werden ausreichen«, sagte er. »Vorzugsweise eine mit einem Empfänger für optische Signale.«

Aquilon schüttelte den Kopf. »Nun, du weißt es wohl am besten. Sag mir, was ich tun soll.«

»Mach eine Blume oder ein anderes Gerät ausfindig, das die richtige Art von Maschine herbeiruft.«

»Irgend etwas Optisches, meinst du?«

»Etwas, das eine optische Reparatur erforderlich macht, ja.« Er wandte sich ab. »Hex! Circe!«

Aquilon zuckte die Achseln und machte sich auf den Weg. Cal wußte, was sie dachte. Er war hier ein noch größerer Geheimniskrämer, als er es auf Nacre oder Paleo gewesen war. Dies waren verhältnismäßig einfache, physische Welten gewesen. Hier jedoch handelte es sich um eine komplexe Situation, die den Intellekt herausforderte. Seine Stärke! Aber er würde bald alles erklären.

Die beiden Mantas trafen ein und segelten nach unten, um neben ihm zu landen. »Ihr habt die harmlosen Maschinen beobachtet?« erkundigte er sich.

Sie brauchten nicht mit den Schwänzen zu knallen. Seine Verständigung mit ihnen war längst über dieses Stadium hinaus. Er konnte die Antwort ihrer Körperhaltung entnehmen, genauso wie er ihre Mißbilligung in bezug auf seine Anweisung wegen Tamme und ihrem Projektor vorausgeahnt hatte.

JA. Wie er bereits gewußt hatte.

»Könnt ihr auf ihren optischen Bereichen senden?«

Jetzt waren sie im Zweifel. Es folgte eine schwierige, ziemlich technische Diskussion, in der es um Wellenlängen und Feldstärken ging. Ergebnis: Sie könnten in der Lage sein, das zu tun, was er wollte. Sie würden es versuchen.

Aquilon kam zurück. »Der Lichtwebstuhl scheint am besten zu sein«, berichtete sie. »Wenn irgend etwas störend auf den Original-Lichtstrahl einwirkt, ist das ganze Gewebe verdorben. Es war zwar eine Schande.«

»Wir werden nichts beschädigen«, beruhigte Cal sie. »Wir wollen nur die passende Maschine aufmerksam machen.« Er blickte wieder auf den kleinen Projektor. »Den hier lassen wir unberührt zurück, denn ich glaube, er ist so eingestellt, daß er sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückholt. Sie haben keine Chance, die Erde zu erreichen. Ich hoffe, sie finden eine ausgleichende Befriedigung.«

Aquilons Augen verengte sich. »Willst du damit andeuten.«

»Je mehr die Agenten fernab von ihrem Computer Erfahrungen mit der Wirklichkeit machen, desto individueller und menschlicher werden sie. Wir brauchen eine weitere menschliche Frau, wenn wir fern von der Erde eine menschliche Kontinuität aufrecht erhalten wollen.«

Ihre Lippen kräuselten sich. »Wenn wir schon dabei sind - warum wünschen wir uns nicht, daß eine Kobra menschlich wird?« Sie gingen zur Quelle hinüber. »Verzerrt das Licht«, wies Cal die Mantas an.

»Laßt eure Strahlen hindurchgehen, wenn ihr es durchhaltet, ohne eure Augen zu verletzen.«

Sie konzentrierten sich pflichtbewußt auf das emporsteigende Licht.

»Es kann eine Weile dauern«, sagte Cal, »weil es ziemlich subtil ist.«

»Zu subtil für mich«, murmelte sie.

»Ich werde es dir erklären.« Er staubte die Plastikverkleidung ab, die die Teppichlagerkammer bedeckte. Es war überflüssig, weil es keinen Staub gab. Er holte einen kleinen Markierstift hervor.

»Wo hast du denn den her?« fragte sie.

»Den Stift? Ich habe ihn schon die ganze Zeit bei mir.«

Sie lächelte traurig. »Er wandert durch paleozänische Dschungel, er kämpft mit Dinosauriern, er legt sich mit verstandesbegabten Maschinen an und trägt dabei einen billigen Bleistift mit sich herum.«

Cal legte die Hand auf ihren Arm und drückte ihn. »Das Leben geht weiter.«

Sie richtete ihre schönen blauen Augen auf ihn. »Hast du es wirklich so gemeint, auf Nacre?«

Nacre, der Pilzplanet: Es war ganz klar, was sie meinte. Er bedauerte jetzt, daß er in Gegenwart Vegs Anspielungen darauf gemacht hatte. Das war nicht anständig gewesen. Er blickte in die Tiefen dieser Augen und erinnerte sich mit absoluter Deutlichkeit.

Sie waren einen schmalen, quälenden Pfad hinaufgeklettert, gesäumt von aufgeblähten Pilzen und dem alles umfassenden Nebel. Statt sich auszuruhen, hatte Aquilon gemalt - nicht trotz ihrer Müdigkeit, wie sie erklärte, sondern gerade wegen ihr. Und obwohl ihr Motiv häßlich gewesen war, war das Bild selbst wundervoll gewesen.

»Du paßt zu deinem Bild«, hatte er zu ihr gesagt, ganz ernsthaft.

Sie hatte sich von ihm abgewandt, überwältigt von einer Emotion, die keiner von ihnen beiden verstand, und er hatte sich entschuldigt. »Ich wollte dich nicht verletzen. Du und dein Werk, ihr seid voller Anmut. Kein Mann könnte eins von beiden ansehen, ohne darauf zu reagieren.«

Sie hatte ihr Bild zur Seite gelegt und in den Nebel gestarrt. »Liebst du mich?« Vielleicht eine naive Frage, denn sie hatten sich erst seit drei Monaten gekannt, und das an Bord eines betriebsamen Raumschiffes. Sie hatten wirklich wenig miteinander zu tun gehabt, bevor sie auf dem Perlnebel-Planeten gestrandet waren.

Und er hatte geantwortet: »Ich fürchte, ich tue es.« Niemals zuvor hatte er das zu einer Frau gesagt, und er würde es mit Ausnahme von ihr auch nie wieder sagen.

Dann hatte sie ihm von ihrer Vergangenheit erzählt: von einer Kinderkrankheit, durch die ihr Lächeln zerstört worden war.

Nun war ihr Wunsch in Erfüllung gegangen: Sie konnte wieder lächeln.

Das war das Geschenk der Mantas. Aber es hatte ihr keine Befriedigung gebracht.

»Ja, ich habe es so gemeint«, sagte er. Und fügte nicht hinzu: Aber Veg hat dich ebenfalls geliebt. Daraus war das Trio entstanden, und sie schien besser zu dem gesunden Veg zu passen, besonders auf Paleo. Unglücklicherweise hatten sich die beiden nicht so ganz als für einander geschaffen erwiesen und waren im Begriff, sich voneinander zu lösen. Cal hoffte, daß er das Richtige getan hatte, als er Veg Tamme überließ. Er hatte versucht, Veg vorher zu warnen, aber die ganze Sache hatte einen Beigeschmack vor Eifersucht an sich, so als ob er einen Rivalen den Wölfen zum Fraß vorwerfen würde. Wolf, Kobra - welche Metapher man auch verwendete, ein Agent bedeutete Ärger. Es sei denn, es gab wie bei Subble eine versöhnende menschliche Qualität, die die gnadenlos effiziente und vor nichts zurückschreckende Programmierung überragte. Nur eine ,sehr, sehr vage Vermutung - aber worauf sollte man sonst bauen?

»Sieh doch, das Muster verändert sich!« rief Aquilon, die durch die Plastikverkleidung auf das sich langsam bewegende Material blickte.

»Großartig, die Mantas haben es geschafft! Nun werden wir sehen, wie lange es dauert, bis eine Reparaturmaschine auftaucht.«

»Du wolltest mir erklären, was du tust.«

»Richtig. Ich werde geistesabwesend.«

»Du wirst es?«

Was für eine belanglose, offensichtliche Bemerkung, diese kleine Neckerei. Und wie sehr sie ihn doch berührte! Für Cal war Liebe absolut. Er war immer bereit gewesen, für sie zu sterben. Irgendwie war er nicht darauf eingestellt gewesen, mit ihr herumzualbern. Es war eine Sache, die er gerne lernen würde. Im Augenblick fiel ihm die passende Antwort nicht ein und er hätte sich sowie nicht unbefangen genug gefühlt, sie zu geben. Deshalb malte er drei Punkte auf die Oberfläche.


»Was siehst du?«

»Ein Dreieck.«

»Wie wäre es mit den drei Ecken eines Quadrates?« »Das auch. Es würde helfen, wenn du das Quadrat komplettierst, falls es wirklich das ist, was du aufzeigen wolltest.«

»Unbedingt.« Er setzte den vierten Punkt ein:

Und wartete.

Sie blickte auf das Bild, dann auf ihn. »Das ist alles?« »Das ist das Wesentliche.«

»Cal, ich bin nun mal ein bißchen schwerfälliger als du. Ich sehe nicht so ganz, was das mit dem Begreifen der sogenannten >Mustereinheiten< und dem Reisen zwischen Alternativwelten zu tun hat.«

Er hob eine Augenbraue. »Wirklich nicht?«

»Du ziehst mich auf!« beschwerte sie sich und schmollte.

Er lernte also schon! »Es macht Spaß.«

»Du hast dich verändert. Bisher warst du immer ernsthaft.«

»Ich bin stärker - dank dir.« Auf Nacre war er fast zu schwach gewesen, um aufrecht stehen zu können, und hatte Verstandes- und gefühlsmäßig den Tod ins Auge gefaßt. Er hatte noch immer eine morbide Achtung vor dem Tod, aber Veg und Aquilon hatten ihm nicht nur im physischen Sinne geholfen.

»Gehen wir mit deinem Quadrat einen Schritt weiter«, schlug sie vor. »Ich weiß, daß noch mehr kommt. So ist es immer bei dir.«

Er betrachtete das Quadrat. »Wir müssen lediglich die Regel festlegen. Drei Punkte sind unvollständig. Sie müssen den vierten hervorbringen. Drei angrenzende Punkte reichen - nicht mehr, nicht weniger. Anderenfalls ist die Figur, die herauskommt, kein.«

»In Ordnung. Drei Punkte ergeben einen vierten.« Sie nahm seinen Stift und machte eine Dreierreihe:

»Was hältst du davon?«

»Doppelfigur. Es gibt zwei Positionen, die von drei benachbarten Punkten gedeckt werden. So.« Er fügte über und unter der Reihe zwei Punkte hinzu:

»Jetzt haben wir eine Art Kreuz.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Erleuchtung ist mir nicht gekommen.«

»Eine weitere Regel, da jede Gesellschaft Regem haben muß, wenn sie stabil sein soll. Jeder Punkt mit drei Nachbarpunkten ist stabil. Oder sogar mit zwei Nachbarn. Aber alles andere - mehr als drei oder weniger als zwei - ist unstabil. Also ist unsere Figur kein Kreuz.«

»Nein. Der Punkt in der Mitte hat vier Nachbarn. Was passiert damit?«

»Wäre dies die Ausgangsfigur, würde sie verschwinden. Grausam, aber notwendig. Die Fünf-Punkte-Figur wird jedoch nicht aus der Drei-Punkte-Figur gebildet, weil die Enden des Originals unstabil sind. Jeder Endpunkt hat nur einen einzigen Nachbarn.«

Dann löschte er die Enden, so daß einer übrigblieb:

Er zeichnete einen neuen Satz:

»Aber was ist mit den neuen Punkten, die wir bereits gebildet haben?«

»Entstehung und Zerstörung sind simultan. Unsere Figur leitet sich also so ab.« Er numerierte die Stadien: